Verena Winiwarter direkt gefragt

„Wir müssen unsere Fantasie nützen“

Mit der Umwelthistorikerin Verena Winiwarter sprach das VCÖ-Magazin über die Problematik der Vermächtnisrisiken, über die Ewigkeitskosten der deutschen Ruhrkohle, über die Notwendigkeit institutionalisierter Zukunftsanwaltschaften, über das Burnout als psychische Krankheit der fossilen Energie, über die unausweichliche Transformation unserer Gesellschaft, zu der Wissenschaft und Kunst gemeinsam viel beitragen können.

VCÖ-Magazin: Sie sind Umwelthistorikerin, und doch rücken immer stärker aktuelle Entwicklungen und Themen in den Mittelpunkt Ihrer Arbeit. Stimmt dieser Eindruck?

Verena Winiwarter: Die Umweltgeschichte ist auch ein Kind der Umweltbewegung. Sie ist in Amerika in den 1970er Jahren entstanden - gleichzeitig mit den Umweltproblemen, dem Umweltbewusstsein. Wenn eine Gesellschaft sich mit bestimmten Problemen beschäftigt, ist zu historisieren, zu schauen, wie haben das andere in der Vergangenheit gemacht, immer eine der Zugangsmöglichkeiten. Das heißt, die Umweltgeschichte war nie weit weg von den aktuellen Fragen.

„Die Friedensbewegung und die Umweltbewegung haben eigentlich dasselbe Programm.“

Warum greifen nachhaltigkeitsorientierte Konzepte wie jenes der planetaren Grenzen oder des ökologischen Fußabdruck nach Ihrer Meinung zu kurz?

Weil sie Vermächtnisrisiken, Hypotheken auf die Zukunft, die unsere Gesellschaft aufgenommen hat, langfristige Verpflichtungen, mit denen wir unsere Nachkommen belasten, etwa die Endlager radioaktiver Substanzen, ignorieren. Je mehr Hypotheken auf die Zukunft wir aufgenommen haben, umso mehr müssen wir auch abzahlen, und umso weniger Freiräume haben wir, Neues zu machen. Freiheit und Nachhaltigkeit haben daher stark miteinander zu tun. Und ohne Nachhaltigkeit auch kein Frieden, weil es dann zu Ressourcenkonflikten kommt. Deshalb bedaure ich auch, dass die Friedensbewegung und die Umweltbewegung sich voneinander getrennt haben, denn die haben eigentlich dasselbe Programm.

Das was unter Vermächtnisrisiken bekannt ist, sind etwa die Endlager von radioaktiven Substanzen. Alleine in Amerika gibt es 15.000 nicht mehr in Betrieb befindliche Uranminen. Unzählige davon gibt es etwa auch in den zentralasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, etwa im Ferghanatal. Wir haben diese Vermächtnisrisiken und schaffen weiter welche, in den verschiedensten Richtungen – und sind dabei, die Erde in eine Sondermülldeponie zu verwandeln.

Auch viele der Autobahnen, die die Alpen durchschneiden, sind komplexe Bauwerke mit sehr ausgefeilten Einbauten, da sie darauf angewiesen sind, dass Hänge stabil bleiben, es nicht zu Muren, Erdrutschen oder Lawinen kommt. Die müssen wir in Schuss halten - die Erhaltung des Betonbandes Straße alleine würde nicht viel nützen. Beton hält nicht ewig. Auch große Speicherkraftwerke haben eine bestimmte Lebensdauer. Und der Unterschied zwischen ewig und 100 Jahren, fällt einem erst auf, wenn die Infrastruktur einmal 70 Jahre steht. Wir müssen ununterbrochen Energie hineinstecken, um diese Infrastrukturen betriebsfähig zu halten. Wir haben sehr viel in die Welt gestellt, dessen Funktionsfähigkeit wir in einem Optimismus, den ich nicht teile, für immer annehmen. Mich schockiert, dass die Nachhaltigkeitsdebatte nicht bereit ist, dieses Problem wahrzunehmen.

„Wir brauchen eine radikal geänderte Planungsphilosophie mit oberstem Ziel: nicht schaden.“

Sind nicht Bereiche mit auf Langfristigkeit angelegten Infrastrukturen, wie der Verkehrsbereich oder der Energiesektor, besonders von Vermächtnisrisiken betroffen? Wie können wir den Umgang mit den Vermächtnisrisiken ändern?

Die Ewigkeitskosten der deutschen Ruhrkohle etwa sind ein ebenso großes Problem. Das Ruhrgebiet ist eine vollkommen unterminierte Landschaft, aus der hunderte Jahre lang Kohlenflöze rausgeholt worden sind. Seit Ende des Jahres 2018 wird das eingestellt. Jetzt muss die Ruhrkohlestiftung, solange die Gegend bewohnbar sein soll – dort wohnen rund fünf Millionen Menschen -, das Grubenwasser abpumpen, damit es nicht das Grundwasser verschmutzt. Teilweise ist das Land schon abgesunken, liegt unter dem Wasserspiegel, und es muss permanent gepumpt werden, um ein Überfluten zu verhindern. All das kostet über 200 Millionen Euro im Jahr.

Solange wir eine Fossil-Energie dominierte technologische Zivilisation haben, statt einer solar-energetisch technologischen, werden wir weiter neue Vermächtnisrisiken produzieren. In den Griff zu bekommen ist das nur mit einer radikal geänderten Planungsphilosophie. Primum nihil nocere, sagt der hippokratische Eid in der Medizin – als erstes und oberstes Ziel: nicht schaden – werden Innovationen unter diesem Gesichtspunkt angeschaut, gibt es vielleicht etwas weniger, aber dafür die richtigen.

Es ist ja nicht so, dass unsere Gesellschaft in Armut und mangelndes Wirtschaftswachstum verfallen würde, wenn wir von Innovationen im Fossil-Sektor auf Innovationen im Solar-Sektor umschalten, das würde auch zehntausende Green Jobs schaffen.

„Ich glaube, dass die Autoindustrie in zwei Teile zerfallen wird.“

Und die Autoindustrie, ist sie ein Beispiel für das Beharren auf die Fossil-Energie dominierte technologische Zivilisation?

Die Bauindustrie, die Autoindustrie, die agrarchemische Industrie, sind so zentral für das, wie wir die Gesellschaft derzeit aufgestellt haben, dass an ihnen sehr viel hängt. Es gibt sehr viele Vorschläge dafür, wie wir aus dem Verbrennungsmotor aussteigen können. Aber denken Sie einmal, wie es mit der Autoindustrie angefangen hat. Die ersten Autos haben wie Kutschen ausgeschaut. Warum? Weil sich damals niemand etwas Anderes hat vorstellen können als Kutschen. Es wurden halt die Pferde vor der Kutsche weggenommen und ein Motor eingebaut. So haben die ersten Autos funktioniert – weder besonders bequem, noch besonders effizient. Und diejenigen, die weiter auf die Pferde-Kutsche gesetzt haben, waren irgendwann einmal die Modernisierungsverlierer. Dasselbe ist passiert zwischen Segelschiff und Dampfschiff. Das wird der Autoindustrie auch passieren, wenn sie nicht umsteigt. Ich glaube, dass die Autoindustrie in zwei Teile zerfallen wird. Die einen werden dasitzen und lobbyieren, dass der Verbrennungsmotor so super effizient ist und wir ihn weiter haben wollen. Sie werden nicht gewinnen. Und die anderen, die sagen: das wird nicht mehr lange gut gehen - lasst es uns anders anlegen. Diejenigen, die Mobilitätsdienstleistungen liefern können, werden die sein, die gewinnen.

„Wir brauchen eine institutionalisierte Anwaltschaft der Zukunft.“

Viele durch innovative Technologien verursachte Reboundeffekte und Umweltschäden wurden erst Jahrzehnte später erkannt. Liegt das einfach im Wesen von Innovationen?

Es liegt schon im Wesen gewisser Innovationen, dass ihre negativen Nebenwirkungen immer erst mit großer Zeitverzögerung überhaupt wahrnehmbar sind, denn es ist oft sehr schwierig für Menschen, sich das vorzustellen. Was wir bräuchten, ist eine institutionalisierte Anwaltschaft der Zukunft – eine solche sollte auf allen Ebenen eingezogen werden. Wir brauchen in jeder Schule eine Zukunftsanwältin oder einen Zukunftsanwalt, in jede Stadt, jede Gemeinde braucht einen amtsführenden Zukunftsstadtrat, eine Zukunftsgemeinderätin – und selbstverständlich auf der Ebene der Regionen, wo sich übrigens schon viel tut. Und auch international braucht es Zukunftsanwaltschaften. Die UNO etwa tut sehr viel auf dieser Ebene. Letztlich könnten Sie das SDG-System, das System der nachhaltigen Entwicklungsziele, die von den Staats- und Regierungschefs der Welt im Jahr 2015 im Rahmen der Agenda 2030 beschlossen wurden, auch als eine Zukunftsanwaltschaft betrachten.

„Das Burnout ist für mich die psychische Krankheit der fossilen Energie.“

Aber eine nachhaltige Zukunft steht derzeit offenbar nicht im Mittelpunkt der politischen Agenda, eher das Weiter-wie-bisher. Sehen Sie eine Chance, dass sich das ändert?

Ich kann Ihnen prognostizieren, eine nachhaltige Gesellschaft unterscheidet sich von der heutigen ungefähr so sehr, wie das Mittelalter von heute – das wird alle Lebensbereiche massiv transformieren. Es wird so anders sein, dass wir es uns derzeit überhaupt nicht vorstellen können. Und unsere Politikerinnen und Politiker sind, so wie sie jetzt organsiert sind, mit Sicherheit ein Auslaufmodell. Wir sind allerdings nicht prognosefähig, wenn es um einen Systemwandel geht, um eine Transformation. Aber wir haben genug gelernt aus der Geschichte, sodass wir jetzt immerhin transformative Forschung machen. Das hat noch keine Gesellschaft vor uns gemacht, zu sagen, wir sind da an einem Ende, es wird eine Transformation kommen – insofern sind wir besser aufgestellt als jemals zuvor. Rechnen Sie mit Dynamik, ist mein Hinweis für die Zukunft, das heißt, rechnen Sie damit, dass das, was Sie die letzten 20 Jahre als Ihr normales Leben betrachtet haben, nicht die nächsten 20 Jahre auch machen werden. Ich glaube, dass das kein Verzicht ist, sondern in mancher Hinsicht eine Befreiung, hin zu einer Gesellschaft, die anders gebaut ist, die Arbeit anders verteilt, die Steuern anders erbringt, die gemeinwohl-orientiert öffentliche Leistungen für die Basisversorgung priorisiert, die Ungleichheit aktiv bekämpft. Das Burnout ist für mich die psychische Krankheit der fossilen Energie – wir brennen deswegen aus, weil wir die Gesellschaft durch fossile Energie so sehr beschleunigt haben, dass wir es selber nicht mehr aushalten. Ich bin nicht bereit schwarz zu sehen – aber ich bin auch nicht bereit zu glauben, dass es einfach so weitergeht.

„Wissenschaft und Kunst können miteinander viel mehr bewirken, als jede einzeln.“

Sie haben in einer Rede eine Lanze für die Mittel der Kunst gebrochen. Was kann die Kunst, was die Wissenschaft nicht kann?

Es bedarf einer Allianz zwischen Wissenschaft und Kunst, die miteinander viel mehr bewirken können, als jede einzeln. Nicht dass Fakten durch Fantasie ersetzt werden sollten - wohin das führt, ist derzeit in der Welt sehr genau zu sehen. Aber es sollte auch nicht auf die Kraft der Fantasie verzichtet werden. Wir brauchen unsere Fantasie für Innovationen, die ja auf Fantasie beruhen. Der Soziologe Hartmut Rosa sieht in der Natur und in der Kunst die beiden letzten Resonanzräume, die sich die Gesellschaft geschaffen hat. Ich motiviere Menschen dadurch, dass ich auf sie als ganze Menschen zähle. Zum ganzen Menschen gehört die Disziplin, die Arbeit, das Faktensammeln, Faktenbewerten und in plausible Zusammenhänge stellen. Aber zum ganzen Menschen gehört auch die Fähigkeit sich eine wünschenswerte Zukunft vorzustellen. Und wenn wir das Potenzial der Kunst dafür nicht nutzen, nützen wir ein wichtiges gesellschaftliches Gesamtsystem, das nämlich fantasievoll sein darf, nicht. Fantasievolle Menschen sind diejenigen, die uns eine nachhaltige Zukunft bescheren werden.

Das Gespräch führte Christian Höller.

Verena Winiwarter, Umwelthistorikerin an der Universität für Bodenkultur Wien, Institut für Soziale Ökologie, Wissenschaftlerin des Jahres 2013, Obfrau der Kommission für Interdisziplinäre Ökologische Studien an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

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