Rollenverteilung überdenken, Mobilität vielfältiger gestalten

Die Familie Köpruner ist ohne eigenes Auto mobil: In die Schule und den Kindergarten werden die Mädchen zu Fuß begleitet. Für längere Wege nimmt die Familie Bus und Bahn oder nutzt das Carsharing.

Die soziale Rolle bestimmt das Mobilitätsverhalten. Wer Familie und Beruf unter einen Hut bringen will, muss flexibel und mobil sein.

Von Jutta Berger

Frauen haben aufgrund einer Rollenzuschreibung andere Aufgaben im Alltag, der Zugang zu Ressourcen ist ein anderer“, sagt Ines Kawgan-Kagan, Mobilitätsexpertin in Berlin und Geschäftsführerin der AEM Institute GmbH. Ein Auto oder mehrere Fahrräder könne sich nur leisten, wer ein entsprechendes Einkommen habe. Nicht nur die finanziellen Verhältnisse beeinflussen das Mobilitätsverhalten. Auch die frühe Sozialisation – Buben werden technik- affin erzogen, Mädchen zu sozialem Handeln – präge das spätere Verhalten: „Frauen übernehmen häufiger als Männer Versorgungsarbeit für Kinder und pflegebedürftige Angehörige.“

Viel mehr Frauen arbeiten Teilzeit

Diese traditionelle Rollenzuteilung wirkt sich auf die Erwerbsquote aus. Die Teilzeitquote betrug im Jahr 2020 bei den erwerbstätigen Frauen in Österreich 47,3 Prozent und bei den Männern zehn Prozent.

Bei Frauen mit Kindern unter 15 Jahren hat Österreich mit einer Teilzeitquote von 74 Prozent den zweithöchsten Wert in der EU. Teilzeitarbeit bedeutet weniger Einkommen –und damit eingeschränkte Optionen im Bereich Mobilität – und später niedrige Pensionen. Zwölf Prozent der Familien in Österreich sind zudem Ein-Eltern-Familien, der Anteil alleinerziehender Frauen überwiegt. Sie tragen das höchste Armutsrisiko aller Haushaltstypen.

Wer Familien- und Erwerbsarbeit vereinbaren muss, zeigt oft entsprechendes Mobilitätsverhalten. Während berufstätige Männer lineare Arbeitswege haben, hin zur Arbeit und wieder zurück, legen Frauen öfter komplexe Wegeketten zurück: Arbeitsweg, Einkäufe, Schul- und Freizeittransporte, Wege zu Gesundheitseinrichtungen. Ein Faktum, das sich in Fahrplänen und Buslinien, die sich an Stoßzeiten und Hauptpendelrouten orientieren, kaum niederschlägt. In der Region dominiert das Auto als Verkehrsmittel, weil das Bus- und Bahnangebot in den meisten Gebieten noch mangelhaft ist. Im städtischen wie ländlichen Bereich sind Frauen mehr zu Fuß unterwegs, haben kürzere Wege als Männer zu erledigen, brauchen aber mehr Zeit, weil sie mehrere Wege kombinieren. Gelänge es, die Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern stärker anzugleichen, hätten alle ähnlich komplexe Wege und eine Verkehrsplanung entsprechend dem Bedarf von versorgenden Personen – heute meist Frauen – käme allen zugute.

Ohne eigenes Auto mobil

Vera Köpruner, 37-jährige Mittelschullehrerin in Vorarlberg, bestätigt die Statistik. „Ganz sicher habe ich mehr Wege zu erledigen als mein Mann.“ Die Mutter von zwei Töchtern arbeitet zu 70 Prozent, ihr Mann arbeitet Vollzeit. „Die Einkaufswege teilen wir uns. Aber die meisten anderen Wege bleiben in meiner Verantwortung“, sagt die Lehrerin. „Das ist dem System geschuldet, in dem wir leben. Männer verdienen mehr und bleiben daher in Vollzeit, Frauen reduzieren ihre Arbeitszeit wegen der Familienarbeit.“

Während sich die Rollenverteilung nicht von der in anderen Familien unterscheidet, geht die Familie von Vera Köpruner bei der Wahl ihrer Verkehrsmittel neue Wege. Seit drei Jahren besitzt sie kein eigenes Auto mehr. In die Schule und den Kindergarten werden die Mädchen zu Fuß begleitet, die Eltern radeln zur Arbeit, Großeinkäufe werden mit E-Bike und Anhänger erledigt.

Vera Köpruner: „Hier im Rheintal leben wir ja privilegiert. Bei uns in der Gemeinde ist alles zu bekommen, es gibt hier alle notwendigen Einrichtungen, wir sind nicht auf das Auto angewiesen.“  Für längere Wege nimmt die Familie Bus und Bahn oder nutzt Carsharing. „Vor allem im Sommer, wenn wir in die Berge wollen.“ Ohne eigenes Auto spare sich die Familie jährlich über 6.000 Euro, lebe stressfreier und habe die Garage als zusätzlichen Raum gewonnen. Vera Köpruners Fazit: „Wir hatten ein Auto, ohne zu hinterfragen, ob wir es wirklich brauchen. Es klappt sehr gut ohne Auto und ich glaube, dass es vielen so gehen könnte.“

Der Mann als Norm

Obwohl es seit den 1990er-Jahren Studien zu Gender und Mobilität gebe, verändere sich Verkehrsplanung und Verkehrspolitik nur sehr langsam, kritisiert Ines Kawgan-Kagan. Nicht der Mensch mit seinen unterschiedlichen Bedürfnissen stehe im Mittelpunkt, es dominiere die techniklastige Perspektive. Innovationen müssten jedoch genau auf Tauglichkeit überprüft werden. Technische Tools hätten immer noch den Durchschnittsmann als Standard, manche neue Angebote würden deshalb von Frauen nur zögernd angenommen, sagt Kawgan-Kagan. Sie nennt Carsharing in Städten als Beispiel: „Die Ausstattung für den Transport von Kindern fehlt oft, ebenso Haltemöglichkeiten zum Ein- und Ausladen.“ Zudem scheuen sich Frauen, die nur ab und zu mit dem Auto fahren, häufiger vor dem Stadtverkehr. „Im Fokus steht immer noch, mit welchen Tools die einzelne Person von A nach B kommt. Wir brauchen aber ein integriertes Mobilitätsverständnis“, sagt Ines Kawgan-Kagan. Das bedeute für die Kommunalpolitik, sich die gesellschaftlichen Strukturen in der Gemeinde genau anzuschauen, „Gruppen und ihre Bedürfnisse zu identifizieren, darauf einzugehen“. Erst aus vielen Bausteinen für unterschiedliche Bedürfnisse und Situationen entstehe ein nachhaltiges Mobilitätsangebot.

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