Mobilitätsinfrastruktur neu denken und neu nutzen

Auf überbreiten Straßen den Platz neu nutzen: Auf der B 83 Kärntner Straße bei Arnoldstein wurde aus der neun Meter breiten Straße ein eineinhalb Meter Grünstreifen herausgefräst und ein Radweg errichtet.

Den unerwünschten Auswirkungen des Autoverkehrs ist durch Einzelmaßnahmen nicht beizukommen. Es braucht Paradigmenwechsel, wie generelles Tempo 30 innerorts. Oder integrale Ansätze in der Stadtplanung, in der Raumplanung, bei der Mobilität – wie es nicht nur in Amsterdam der Fall ist.

Von Christian Höller

Etwa 500 Kfz rauschen pro Stunde zu Urlaubszeiten und an verlängerten Wochenenden durch das Tiroler Dorf Obsteig im Bezirk Imst, wo etwas über 1.000 Menschen leben. Der Verkehr auf der zur „Dorfautobahn“ ausgebauten Bundesstraße B 189 durch das Dorf prägt hier das Leben. Hier fährt Deutschland nach Italien und zurück. Will jemand auf die andere Straßenseite, heißt es mitunter minutenlang auf eine Lücke warten. Radfahrende und Gehende fühlen sich massiv gefährdet. Seit dem Jahr 2020 wird nun den langjährigen Forderungen Rechnung getragen und mit finanzieller Unterstützung des Landes Tirol wird die Straße verschmälert, aufgefräst und ein Grünstreifen und kombinierter Geh- und Radweg geschaffen. Damit hofft die Bevölkerung auf Verkehrsberuhigung und mehr Sicherheit. In vielen Ortschaften sind durchquerende Bundes- und Landesstraßen solche Autoschneisen, die dem Autoverkehr Vorrang zulasten der Lebensqualität der Wohnbevölkerung einräumen. Tempo 30-Bereiche oder Begegnungszonen müssen begründet werden, nicht der durchfahrende Autoverkehr. Landesbehörden zementieren seit Jahrzehnten diese autofreundliche Gestaltung des Straßenraums. In einzelnen Bundesländern, etwa Tirol, hat ein Umdenken eingesetzt. Doch erst das generelle Absenken der Höchstgeschwindigkeit im Ortsgebiet auf Tempo 30, wie kürzlich in Spanien umgesetzt, mit der Begründungslast beim Wunsch nach punktuell höherem Geschwindigkeitslimit, würde den nötigen Paradigmenwechsel bringen. Er lässt in Österreich auf sich warten.

Entsiegeln, aufbrechen, begrünen

Ähnlich langwierig ist es, auf Straßen außerorts Veränderungen voranzutreiben, wie Radwege zu schaffen. Erst vereinzelt werden auf Landesund Bundesstraßen überbreite Fahrbahnen aufgefräst, verschmälert und am gewonnenen Platz Radwege und Grünstreifen geschaffen. „Vor etwa zehn Jahren hat ein Umdenken eingesetzt. Ausgelöst im Sinne der Verkehrssicherheit, durch Lärm, Anwohnerproteste oder erhöhte Straßenerhaltungskosten“, erzählt Volker Bidmon, Leiter der Straßenbauabteilung im Amt der Kärntner Landesregierung. Im Anlassfall werden überbreite Landesstraßen rückgebaut – vor allem wenn Sanierungsmaßnahmen anstehen. Bidmon nennt die B 83 Kärntner Straße auf Höhe von Arnoldstein als Beispiel. Hier wurde aus neun Meter eineinhalb Meter Grünstreifen herausgefräst und es entstand ein Radweg. „Solche Straßenverschmälerungen sparen langfristig Geld, bis zu 30 Prozent des Erhaltungsaufwands, die pro Jahr und Fahrspur-Kilometer rund 7.000 Euro betragen. Es ist nicht einfach, ausgetretene Pfade zu verlassen. Die Zeit war aber noch nie so reif für solche Maßnahmen“, ist Bidmon überzeugt. Doch einen Plan zur systematischen Redimensionierung von Straßen gibt es in Österreich nicht.

Von Einzelfall zu Einzelfall

Die Gestaltung von Neuem ist naturgemäß von Widerständen begleitet. Fast jede Gemeinde mit Fußgängerzone kann von heftigen Kontroversen um diese Neuerung bei der Einführung berichten. Heute sind diese Fußgängerzonen nicht mehr wegzudenken. Wer möchte sich Kärntnerstraße und Graben in Wien oder die Fußgängerzone im eigenen Ort mit Autoverkehr vorstellen? Unglaublich auch, was an Stadtautobahnen in den 1960er-, 1970er-Jahren geplant und oft glücklicherweise verhindert wurde. Etwa die Flötzersteig-Autobahn, die im Westen Wiens als Stelzenstraße geplant war. Oder die Wiental-Autobahn, die bis zum Karlsplatz ins Wiener Zentrum führen sollte. Die Diskussion um die Lobau-Autobahn lässt die Erinnerung an solche Irrwege der Verkehrsplanung wach werden. International sind heute Rückbauten von Stadtautobahnen bereits imageträchtige Leuchtturm projekte. Etwa die in Paris seit dem Jahr 2016 erfolgte Umgestaltung der Schnellstraße am rechten Seine-Ufer in eine Promenade. Oder in Ljubljana die Umgestaltung eines Teils der innerstädtischen Kfz-Hauptverkehrsachse Slovenska Cesta zu einer Flaniermeile für Gehende und Radfahrende.

Der integrale Lösungsansatz von Amsterdam

Die Klima- und Verkehrsprobleme sind groß. Punktuelle Maßnahmen reichen nicht aus. Es braucht umfassende, integrale Ansätze in der Stadtplanung, in der Raumplanung, bei der Mobilität. Dagmar Keim von der Stadt Amsterdam skizziert im Februar 2021 bei den Globalen Stadtgesprächen des OECD Berlin Centre die Pläne für die niederländische Hauptstadt. Amsterdam wachse enorm und brauche bis zum Jahr 2050 rund 290.000 neue Wohnungen beziehungsweise 400.000 in der Metropolregion. „Damit kommt ein enormes Mobilitätswachstum auf uns zu. Es muss daher auch im Mobilitätsbereich auf allen Ebenen gearbeitet werden: den Regionalverkehr vom durchfahrenden Verkehr entflechten, Mobilitätsknoten schaffen, First-/Last-Mile-Lösungen entwickeln“, skizziert Keim. Das Ziel sei im Jahr 2030 die ganze Stadt als Tempo 30-Zone und ohne CO2-emitierende Autos, als Inklusive-Stadt mit hoher Lebensqualität zu gestalten. „Das ist nur zu erreichen, wenn wir Autos möglichst aus der Innenstadt verdrängen. Dann braucht es auch keine Radwege mehr, da alle Straßen Fahrradstraßen werden und das Auto nur zu Gast ist“, so Keim. Das bringe natürlich Konflikte, aber so werde sehr viel Platz gewonnen. Aus vielen Parkplätzen werde neuer öffentlicher Raum, für Parks, für Grün, für die Menschen. Das habe auch einen positiven Effekt für die Luftqualität. Der soziale Faktor werde aufgrund der hohen Mieten immer wichtiger. Die Segregation nehme dadurch zu. Analysen in der Region zeigten ganz deutlich, dass Leute mit weniger Geld an Orte gedrängt werden, die nicht mit Öffentlichem Verkehr erreichbar sind. Dem gelte es gegenzusteuern. Es wurde ein „City-Doughnut“-Modell entwickelt, als Versuch in den Grenzen der Ökologie der Erde zu bleiben, und gleichzeitig ein soziales Fundament zu bauen. Alles was wir machen, wird an diesem Modell getestet, um zu sehen, wo sind wir gut – wo wir nicht gut sind, daran wird gearbeitet“, so Dagmar Keim.

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