Interview mit Stefan Thurner

Fakten, auf denen die Gesellschaft aufbauen kann

Stefan Thurner, Physiker und Ökonom, ist Professor am Institut für die Wissenschaft Komplexer Systeme der Medizinischen Universität Wien sowie an dem von ihm initiierten und geleiteten „Complexity Science Hub Vienna“.

Das VCÖ-Magazin im Gespräch mit dem Komplexitätsforscher Stefan Thurner über Daten als  Werkzeuge, den Umgang der Politik mit Fakten, was der Gesundheitsbereich mit Verkehr zu tun hat und wie jede Person in Österreich Bundeskanzler sein könnte – und auch sein sollte.

VCÖ-Magazin: Was ist das Neue an der Komplexitätsforschung?

Stefan Thurner: Die Komplexitätsforschung arbeitet interdisziplinär. Forschende nutzen ihr Fachwissen aus bestimmten Fachgebieten – bei mir ist das die Physik – um vorhandene Daten mittels einer gemeinsamen Sprache wie der angewandten Mathematik und der Fähigkeit zu programmieren, zu komplexen Systemen zu verknüpfen. Wir entwickeln Methoden, um ko-evolutionäre Systeme beschreiben zu können und sie auch in Computersimulationen nachzubilden. Mit großen Datensätzen geht das oft wunderbar, weil die Eigenschaften der Komponenten der Systeme enthalten sind, etwa welche Bank wieviel Kapital hat. Und ich sehe, wie die untereinander zusammenhängen, wie sie sich updaten, wie sie interagieren und sich neu definieren. Das heißt, ich kann den Interaktionen von komplexen Systemen mit Hilfe von großen Datensätzen quasi zuschauen, und sie dann auch in Computersimulationen nachbilden. Die nächste Herausforderung ist, sie so gut zu verstehen, dass ich sie beeinflussen und managen kann.

VCÖ-Magazin: Die Klimaforschung ist ein Beispiel für angewandte Komplexitätsforschung?

Stefan Thurner: Ja. Sie ist allerdings weit komplizierter und vielschichtiger, und arbeitsintensiver, als das was wir mit unseren beschränkten Mitteln machen können. Da sind weltweit tausende Leute involviert und braucht Satellitentechnik, weltweite Observationsstellen und Messungen etc. Wir können da nicht mithalten und suchen uns Fragestellungen, wo wir Neues beitragen können,  wie etwa das Quantifizieren von systemischen Risiken oder Berechnungsmethoden und Algorithmen um das Kollaps-Risiko von Ökosystemen oder Finanznetzwerken zu berechnen.

Stefan Thurner wurde vom Club der Bildungs- und Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten in Österreich zum Wissenschaftler des Jahres 2017 gewählt.

VCÖ-Magazin: Liefert Ihre Arbeit Entscheidungsgrundlagen für die Politik?

Stefan Thurner: Um das Jahr 2000 haben wir mit Kolleginnen und Kollegen der Nationalbank die Stabilität von Finanznetzwerken untersucht. Das war damals eher esoterisch und kaum einen Menschen interessiert. Heute ist das das Um und Auf bei Stresstests von Banken. Die Simulatoren, die wir bauen – wir machen aktuell einen für das Wirtschafts- und einen für das Gesundheitssystem – sind neue Werkzeuge, womit wir unterschiedlichste wissenschaftliche Fragen behandeln können. Diese können durchaus auch für politische Entscheidungen verwendet werden. Das war ursprünglich gar nicht beabsichtigt.

VCÖ-Magazin: Sie beschäftigen sich nicht explizit mit Verkehrsthemen und doch tauchen solche auf, etwa in Ihrer Simulation zur Gesundheit, wenn Sie feststellen, dass die Streichung von Arztstellen zusätzlichen Verkehr auslöst.

Stefan Thurner: Verbindungen zum Thema Verkehr ergeben sich bei vielen Forschungsfragen. Wenn wir etwa von sehr vielen Menschen in Österreich wissen, wie schnell sie sich bewegen, können wir hochrechnen wie viele Fahrrad, zu Fuß, oder eine U-Bahn oder ein Auto verwenden, dann können wir den Carbon-Footprint der Mobilität in Österreich an jedem Tag ausrechnen. Was wir dann wieder zu anderen Fragestellungen kombinieren können.

VCÖ-Magazin: Eingedenk der von der neuen Regierung angestoßenen neuerlichen Diskussion über das Rauchen in Restaurants und auch die Anhebung von Tempolimits – glauben Sie wirklich, dass selbst eine klare Faktenlage stets zu Vernunftentscheidungen führt?

Stefan Thurner: Aufgabe der Wissenschaft ist, Fakten zu schaffen, auf denen die Gesellschaft aufbauen kann, die nachprüfbar sind und die es uns ermöglichen, uns so zu organisieren, dass es dann für die meisten Leute lebenswerter wird. Dafür braucht es die Tools, diese Daten so zu aggregieren, damit mit ihnen durchgespielt werden kann, was die Effekte von Maßnahmen sind und auch welche unbeabsichtigten Konsequenzen oder Rebound-Effekte sie haben können. Rauchen ist – faktenbasiert – schlecht, aber das ist seit den 1970er Jahren bekannt. Das ist Politik gegen Fakten. 

VCÖ-Magazin: Der Schaden durch die Öl-Plattform-Katastrophe der Deepwater Horizon ist bekannt – kann berechnet werden, um wieviel schlimmer ein Unfall wäre, wenn begonnen wird, in der Arktis zu bohren?

Stefan Thurner: Ein Kollege in Oxford schaut sich Technologietransformationen an. Es gibt etwa keine Versicherung, die Atomkraftwerke versichert. Da stellt sich die Frage: Wollen wir als Gesellschaft Sachen, die so gefährlich sind, dass sich niemand traut, die Risiken zu übernehmen und die daher unversichert sind? Aber wir tun es trotzdem. Niemand wird auch Umweltschäden und deren Folgeschäden versichern. Wäre interessant was dafür die Versicherungsprämie wäre.

VCÖ-Magazin: Infrastrukturentscheidungen wie Straßenbau oder die Dritte Piste in Wien Schwechat, prägen Verkehrsentwicklungen für Jahrzehnte. Kann Ihre Wissenschaft Daten liefern, die deren langfristige Wirkungen transparenter machen?

Stefan Thurner: Ein Kollege an der ETH Zürich hat Systeme entwickelt, in denen Verkehr und Ampeln einander beeinflussen. Wenn Ampeln nicht mehr starr grün und rot schalten, egal wieviel Verkehr ist, sondern der Verkehr selber auch die Ampeln steuert und die Ampeln sich über die gesamte Stadt koordinieren, um ein Optimum zu finden, das sich ständig verändert, dann wird das zu einem komplexen System. Das ist dann zwar kompliziert  – aber es erlaubt drastische Verbesserungen der Effizienz.

VCÖ-Magazin: In Zürich wurde die Entscheidung gefällt, die Daten anders als zur Optimierung des Autoverkehrs zu nutzen.

Stefan Thurner: Auf meine Frage, warum das nicht realisiert ist, sagte mein Kollege, weil das viel zu viel Autoverkehr durch die Stadt führen würde. In Zürich gibt es jetzt keine Ampeln an den Hauptkreuzungen im Zentrum mehr und die Fußgängerinnen und Fußgänger haben absoluten Vorrang. Weniger Autos im Zentrum sind für das Gesamtverkehrsaufkommen besser.

VCÖ-Magazin: Also brauchen Fakten immer auch ein Bewertungssystem um Anwendung und Prioritäten aus den Daten abzuleiten?

Stefan Thurner: Ja. Denn die Sachen, die wir produzieren, sind ja nur Werkzeuge. Das Bewerten ist eine andere Ebene, das muss die Gesellschaft im Konsens entscheiden. Schön wäre es, diese Simulatoren online zu bringen, sodass die Menschen selber Bundeskanzlerin oder Bundeskanzler spielen können, Steuern einführen und abschaffen, etc., um so die Konsequenzen von Maßnahmen unmittelbar und nachprüfbar sichtbar werden zu lassen - das wäre eine ganz andere Qualität der Darstellung von Fakten. Heute sagt der eine das, der andere behauptet das Gegenteil. Wenn ich erst streiten muss, was die Fakten sind, bleibt alles nur Ideologie und Bauchentscheidung.

VCÖ-Magazin: Sie arbeiten mit Big Data, also den riesigen Datenmengen, die überall gesammelt werden und verknüpfen sie. Was kann Ihre Wissenschaft zu Themen wie Datenschutz, Privatheit etc. beitragen?

Stefan Thurner Privacy verändert sich derzeit radikal, sie verschwindet, und man kann den Trend vermutlich nicht aufhalten oder umkehren. Aber was wir wollen ist, dass die Informationen über Personen nicht gegen diese verwendet werden können. Und ich will beispielsweise wissen, wer was über mich weiß. Um zu wissen, wer meine Daten hat, werden Blockchain-Sachen eventuell interessant werden. Da kann ich in Zukunft vielleicht mitschreiben, etwa wenn mein Genom erhoben wird, welche Pharmafirma es wann verwendet, welches Uni-Institut etc. Wenn ich etwa meine, eine bestimmte Pharmafirma lehne ich ab, dann untersage ich ihr, mein Genom zu verwenden. Und mit Blockchain habe ich dann eine Grundlage, auch strafrechtliche Sanktionsmöglichkeiten durchzusetzen. Aber das ist alles noch Zukunftsmusik. Wir experimentieren ein bisschen damit.

VCÖ-Magazin: Wie kann bei komplexen Themen wie nachhaltige Mobilitätspolitik, Klima oder Gesundheit verhindert werden, dass Politikerinnen und Politikern, wenn sie begreifen, wie komplex die Dinge sind, handlungsgelähmt reagieren und sagen, wir müssen alles wissen, bevor wir irgendwas tun?

Stefan Thurner: Umso mehr braucht es die Tools, die großen Datenmengen so sinnvoll aufzubereiten, dass mit ihnen spezielle Szenarien realistisch durchgespielt werden können – auch was etwa unbeabsichtigte Konsequenzen oder Rebound-Effekte von Maßnahmen sein können. Wenn die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem disruptiven Klimaeffekt kommt, 5 Prozent beträgt, muss eine vernünftige Politik alles tun, damit diese 5 Prozent zu 0,0005  Prozent werden. Keiner will die Bevölkerung von Bangladesch auf die Welt verteilen müssen, weil es aufgrund des Klimawandels überflutet wird. Und natürlich können wir nicht 300 Millionen Menschen ertrinken lassen.

>> Das Gespräch führten Ulla Rasmussen und Christian Höller.

Zurück zur Übersicht